Texts

For Chris Newman

Now that contemporary art seems to have disintegrated into the sentimental surfeit of ideas with no substance whatsoever and a retrospective re-hashing, here, once again and unexpectedly, a figure emerges who does in fact succeed in finding a new was of formulating the question of matter, meaning essence, or indeed substance. Chris Newman definitely does not work outside history, as the question of matter is also always a question to history, whose selection passes down to us those things whose matter endures. When Newman as a composer refers for example to Beethoven and as a painter and drawer to Ibsen, then he does so because he is convinced by the matter. Fleshing out Ibsen’s text from Ghosts with his own diary entries, or transforming it into painting and drawing is nothing other than exposing the pure matter as if it were a seam of gold or an electric current and like an injection filling it into something else. Nobody will set out to understand Newman’s images as being fueled by Ibsen’s text, as the intention is not to treat the matter as equality of images, as identity in the intellectual sense or as an illustrative notion, but as involving a kind of life current being transposed onto the ungrounded canvas. This transposition is undertaken in as primitive manner, with such a carefree mind as possible. Here, primitive is construed as a state that has freed itself of all speculation and tactical, calculating form, and no longer even wishes to entail composition. The actual reversion to an in this sense primitive

identity with itself and the matter resembles a process of purgation that eliminates the over-burdening of the matter with meaning taken by Modernism to the point where matter became unrecognizable. Here, a hitherto unknown path to the new beginning so urgently needed has indeed been taken. This world, which pays homage to surfeit and seeks inflation wherever it can, does not tolerate pure matter. It instinctively has to hang the matter with poorly fitting clothes in order to re-attain its purported freedom, and calls the result individuality. Cultural conventions or ideologies that imbue everything with meaning, translate it into language and digest it (which essentially means trying to devalue and destroy it) are powerless in the face of pure matter. Newman has succeeded in generating this powerlessness as a state prior to art – in a world that fears precisely that most. Pure matter, identical with itself and meaning nothing other than itself, is fundamentally nothing other than happiness or what we call the soul or god. Identity is not the same as the individuality that we believe contains freedom. Newman is a person with a strong streak of individuality that has penetrated the identity of the matter, be it in painting, in drawing, in music, in film, or writing, talking and singing. He has reunited what we call personality with infinity. Only on that basis is art possible.

Text by Eugen Blume, October 2009

Für Chris Newman

Nachdem die zeitgenössische Kunst sich in der sentimentalen Überfülle von Einfällen ohne jegliche Idee und der retrospektiven Wiederverwertung aufzulösen scheint, tritt hier nochmals und unerwartet eine Gestalt hervor, die es tatsächlich schafft, die Frage des Stoffes also der Essenz oder wenn man will, der Substanz neu zu formulieren. Chris Newman arbeitet keineswegs geschichtslos, denn die Frage nach dem Stoff ist immer auch eine Frage an die Geschichte, deren Selektion uns die Dinge überliefert, deren Stoff überdauert. Wenn sich Newman als Komponist etwa auf Beethoven und als Maler und Zeichner auf Ibsen bezieht, dann weil er von dem Stoff überzeugt ist. Ibsens Text aus Gespenster mit den eigenen Tagebucheintragungen auszufüllen, oder in die Malerei und Zeichnung zu transformieren, heißt nichts anderes, als den puren Stoff wie eine Goldader oder einen elektrischen Strom freizulegen und in etwas anderes wie eine Injektion einzufüllen. Niemand wird Newmans Bildern abzulesen verstehen, dass sie sich aus Ibsens Text speisen, weil es nicht darum geht den Stoff als Bildgleichheit, als Identität im intellektuellen Sinne oder als illustrativen Einfall zu behandeln, sondern ihn als eine Art Lebensstrom auf die ungrundierte Leinwand aufzutragen. Das Auftragen erfolgt so primitiv, so gedankenfrei wie möglich. Primitiv ist hier als ein Zustand begriffen, der sich von jeder Spekulation und taktischen, berechnenden Form gelöst hat, nicht einmal mehr Komposition sein will. Die tatsächliche Rückkehr in eine in diesem Sinne primitive Identität mit sich und dem Stoff ist wie ein

Reinigungsprozess, der die durch die Moderne bis zu seiner Unkenntlichkeit betriebene Überladung des Stoffes aufhebt. Hier ist nochmals ein bisher nicht gekannter Weg zu einem notwendigen Neubeginn tatsächlich vollzogen. Diese Welt, die dem Überfluss huldigt und überall die Inflation sucht, hält den reinen Stoff nicht aus. Instinktiv muss sie, um ihre angebliche Freiheit wieder zu gewinnen, den Stoff mit schlecht passenden Kleidern behängen, was sie dann Individualität nennt. Kulturelle Konventionen oder Ideologien, die alles mit Bedeutung versehen, in Sprache übersetzen und verdauen, das heißt im Grunde entwerten und vernichten wollen, sind allein vor dem reinen Stoff machtlos. Diese Machtlosigkeit als einen Zustand vor der Kunst zu erzeugen, ist Newman in einer Welt gelungen, die sich gerade davor am meisten fürchtet. Der reine Stoff, der mit sich selbst identisch ist und nichts anderes als sich selbst meint, ist im Grunde nichts anderes als das Glück oder was wir die Seele oder Gott nennen. Identität ist etwas anderes als Individualität in der wir die Freiheit vermuten. Newman ist eine Person mit einer starken Individualität, die in die Identität des Stoffes vorgedrungen ist, in der Malerei ebenso, wie in der Zeichnung, in der Musik wie im Film oder im Schreiben, Sprechen und Singen. Er hat das, was wir Persönlichkeit nennen wieder mit der Unendlichkeit verbunden. Nur daraus ist Kunst überhaupt möglich.

Text by Eugen Blume, Oktober 2009

   

Existential Hinge

Die sieben nicht aufgespannten Bilder, aus denen Existential Hinge besteht, stammen aus dem Jahr 2000 und sollen keineswegs eine Serie oder einen geschlossenen Werkzyklus darstellen. Für alle sieben habe ich auf ein Repertoire von visuellem Material (gegen das Wort >Gesten< habe ich eine Aversion) zurückgegriffen, was einfach eine elementare Art war, die Farbe vom Pinsel herunter und auf die Leinwand zu bekommen und nach Wegen zu suchen, die bürgerliche Kontrolle über die Platzierung auszuschalten. Eine elementare Art zu finden, überhaupt malen zu können. Dieses visuelle Material besteht (in diesem Fall) aus Streifen und Spuren mit einem festen strukturellen Hintergrund, die durch die Art der Ausführung (Farbauftrag) - durch eine Art von Privat-Performance-Stücken - zerschlagen wird. Es sind auch sehr elementare figurative Quadrate zu sehen, die auf Polaroids basieren, die einen Schnappschuss der Peripherie des Körpers und das unmittelbare Umfeld integrieren und die eher damit zu tun haben, was wir real im Leben sehen, als mit einer bildlichen Darstellung von irgendetwas. Diese Elemente sind einander überlagernd kombiniert und streben nicht miteinander nach Harmonie, sondern sind eher aneinander gelehnt, wie Öl auf Wasser, eine Art von sich automatisch ergebendem Kontrapunkt, fast so, als müsse das Auge selbst die

Elemente zusammen bringen. (Es gibt auch ein etwas >opulenteres< Achter-Motiv als übermalte Form.) Das Zusammenbringen dieser Elemente soll vor allem eine Instabilität schaffen, die den Eindruck erweckt, die Bilder seien noch im Entstehen begriffen. Einige dieser Leinwände habe ich in zwei Teile zerschnitten und die Positionen der Stücke verändert und sie dann wieder zusammengenäht. Das hat mit der Repositionierung des visuellen Materials an sich zu tun, wobei dieses gleich bleibt und nicht manipuliert wird, sondern nur seine Syntax verändert wird, die Art, in der es zusammenhängt, so als sei der Körper geblieben, aber der Charakter verändert worden. Die Farben, die sich durch diese Nicht-Serie ziehen, sind nach wie vor Rot, Braun, Schwarz und Weiß, welche seit 15 Jahren die einzigen Farben auf meiner Palette sind, wobei mein Interesse nicht so sehr der Wahl der Farbe gilt, sondern eher dem Grad der >Farbigkeit<. Diese Bilder spanne ich nicht auf, da ich den Eindruck hatte, dass sie schon ohne Rahmen genug >Körper< besitzen. Der Titel Existential Hinge (Daseinsdrehpunkt) kommt (falls Sie sich das fragten) von dem Gedanken, dass es genau das ist, was wir sind: Drehpunkte zwischen Gott und unserem Tun.

Chris Newman

Text by Chris Newman, 22. September 2008 (für Jutta Mattern und Raimund Stecker)
Text von Katalogseite 105 zu den Bildern von Chris Newman
Katalog: Kunstgeschichten – Die Sammlung des Arp Museums Bahnhof Rolandseck 1987-2009; Vorwort Klaus Gallwitz, Oliver Kornhoff; Texte von Jutta Mattern, Erwin Wortelkamp, Lutz Stehl, sowie verschiedene Autoren und Künstler und Künstlerinnen zu den Kunstwerken; 308 Seiten, Richter Verlag, Düsseldorf 2009; ISBN 978-3-941263-08-6